Was der Krieg in der Ukraine für Syrien bedeutet: „Es besteht die Gefahr einer ernsthaften regionalen Eskalation“ (2023)

Frau. Asseburg, Russland unterstützte das Regime von Baschar al-Assad, indem es in den Syrienkonflikt eingriff. Aber jetzt kämpft ermilitärisch erschöpfende Aggression gegen die Ukraine, die mehr als ein Jahr dauerte. Wird Russland noch lange in der Lage sein, Einfluss in Syrien auszuüben?
Man kann durchaus sagen, dass auch für Russland der Konflikt in Syrien durch den Krieg in der Ukraine in den Hintergrund gerückt ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Russland Damaskus in naher Zukunft aufgeben wird. Allerdings hat er dort seine militärische Stärke reduziert, die ohnehin nicht groß ist. Aber Moskau verfügt auf jeden Fall über genügend militärische Kapazitäten, um sich zu behaupten. Dies ist auch dank der Zusammenarbeit mit dem Iran, die Russland auch in der Ukraine pflegt, sowie einer Vielzahl von Milizen möglich.

Aber ist die Brandgefahr in der Region gestiegen?
Ich benutze dieses Wort nicht wirklich gern. Konflikte sind menschengemacht. Dennoch besteht in der Region weiterhin ein hohes Eskalationsrisiko, da unterschiedlichste Konfliktdimensionen ineinander übergehen und sich überlagern können. Längst geht es in Syrien nicht mehr um das, was alles begann: einen Aufstand gegen das unterdrückerische Assad-Regime, der sich schnell zu einem internationalen Bürgerkrieg ausweitete. Neben Russland engagieren sich längst auch andere ausländische Mächte militärisch: die USA, die Türkei, Iran und Israel. Sie sind alle militärisch präsent und unterstützen zumeist auch verschiedene Gewaltakteure vor Ort, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Schon lange heißt es, Syrien sei ein militärischer Testballon für Putin.
Ich kann dem Testballon nur bedingt zustimmen. Zwar hat Russland in Syrien neue Waffensysteme getestet. Aber ich kann nur teilweise erkennen, dass Syrien der Plan für die Ukraine sein sollte. Es gibt zu viele Unterschiede – erstens wurde Russland vom Regime eingeladen und es gab ein gemeinsames internationales Interesseum den sogenannten Islamischen Staat zu bekämpfen.Darüber hinaus hat Russland in seiner unmittelbaren Umgebung bereits zuvor Kriege geführt. Auch wenn es zynisch klingt: Nach den Kriegen in Tschetschenien und Grosny braucht man Aleppo nicht, um zu wissen, wie man eine Stadt bombardiert, um die Trümmer zu zerstören und Menschen verhungern zu lassen.

Als es einen Krieg in Tschetschenien und Grosny gab, brauchte man nicht Aleppo, um zu wissen, wie man eine Stadt bombardiert, um die Trümmer niederzureißen und die Menschen verhungern zu lassen.

Muriel Asseburg

Was sind also die Interessen Russlands in Syrien?
Alles basiert auf Geostrategie. Russland will seine Präsenz im Mittelmeer durch seine Militärstützpunkte in Syrien ausbauen. Es geht auch darum, sich als Großmacht zu beweisen: Ohne oder gegen Russland dürfte ein Fortschritt in Konflikten wie diesem nicht mehr möglich sein. Für Moskau war es auch wichtig, deutlich zu machen: Wir stehen an der Seite unserer Freunde, während die Amerikaner während des Arabischen Frühlings viele Verbündete in der Region im Stich gelassen haben.

Was der Krieg in der Ukraine für Syrien bedeutet: „Es besteht die Gefahr einer ernsthaften regionalen Eskalation“ (1)

Durch die Hand Russlands stoppte Syrien 2013 sein Chemiewaffenprogramm und zerstörte seine Vorräte. Ist der Einfluss Russlands auch positiv zu sehen?
Es war tatsächlich ein Erfolg. Unmittelbar nach dem Einsatz chemischer Waffen durch Assad orchestrierte Moskau den Beitritt Syriens zum Chemiewaffenvertrag und verhinderte so eine militärische Reaktion der USA. Es bestehen jedoch Zweifel, ob zu diesem Zeitpunkt tatsächlich alle Lagerbestände gemeldet und vernichtet wurden. Es gibt Hinweise darauf, dass seitdem möglicherweise neue Bestände aufgebaut wurden.

Anstatt eine multilaterale Lösung anzustreben, haben Russland, Iran und die Türkei das Land in Einflusssphären aufgeteilt.

Muriel Asseburg

Darüber hinaus leitete Russland den sogenannten Astana-Fall ein, was ab 2017 zu einer allmählichen Beruhigung führte.
Das russische Engagement hier ist sehr ambivalent. Tatsächlich besteht der Erfolg darin, dass das Ausmaß der Gewalt stark zurückgegangen ist – natürlich erst nach massiven Militäreinsätzen zur Unterdrückung der Opposition in den Jahren 2015/16. Seit 2020 gilt der von Moskau vermittelte Waffenstillstand auch im Norden weitgehend. Allerdings gelang es Moskau nicht, den Konflikt beizulegen. Auch der Versuch, einen Verfassungsprozess einzuleiten, scheiterte. Darüber hinaus hatte das Astana-Format den negativen Nebeneffekt, dass es die Friedenssicherungsbemühungen der UN schwächte. Anstatt eine multilaterale Lösung anzustreben, haben Russland, Iran und die Türkei das Land in Einflusssphären aufgeteilt.

Seitdem ist die Front weitgehend zugefroren, es kam nur zu kleineren Gefechten. Hat der Krieg in der Ukraine die tatsächliche Lösung des Konflikts noch weiter vorangetrieben?
Ja, ich denke, das solltest du sagen. Der Krieg in der Ukraine hat die Interessenkonvergenz zwischen Iran und Russland verstärkt; Eine Zusammenarbeit des Westens mit Russland zur Lösung des Konflikts in Syrien ist kaum vorstellbar. Gleichzeitig begannen sich die Dinge jedoch an einer anderen Front erneut zu ändern: der Annäherung Saudi-Arabiens an Iran im März dieses Jahres. und Moskaus Vermittlung zwischen Ankara und Damaskus dürfte eine stabilisierende Wirkung haben. Allerdings bleibt die Lösung von Konflikten aufgrund widersprüchlicher Interessen schwierig.

Scheinbar hyperkomplex und eingefroren – ist es verständlich, dass die deutsche Öffentlichkeit einen solchen Konflikt weitgehend aus den Augen verliert?
Natürlich haben sich die Prioritäten in Deutschland durch den Krieg in der Ukraine verändert. Dadurch wird Konflikten wie dem in Syrien weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Komplexität ist nur ein Faktor. Wichtiger erscheint mir, dass die Europäer es längst aufgegeben haben, die Dynamik aktiv mitgestalten zu wollen. Infolgedessen ist Syrien im Wesentlichen ein humanitäres Problem im Land – eines der vielen Elendsfelder der Welt – und kein Thema, an dem politisch aktiv gearbeitet wird.

Wir sollten uns nicht vormachen, dass Konflikte uns nicht mehr betreffen, nur weil wir wegschauen.

Muriel Asseburg

Welche gefährlichen Phänomene übersehen wir?
Wir sollten uns nicht vormachen, dass Konflikte uns nicht mehr betreffen, nur weil wir wegschauen. Auch wenn es zu einer regionalen Annäherung an Damaskus kommt, besteht ein großes Risiko einer Destabilisierung und militärischen Eskalation. Dazu gehört beispielsweise eine militärische Konfrontation zwischen Israel und dem Iran, die auch in Syrien stattfand: Israel verübt in Syrien unter anderem Angriffe gegen die vom Iran unterstützte Hisbollah-Miliz; Iran greift israelische Schiffe an. Unterdessen hat die Biden-Regierung durch gemeinsame Manöver mit Israel ihre enge Bindung zu Israel erneut betont. Es ist auch zu lesen, dass er sich nicht mehr gegen einen israelischen Militärschlag gegen das iranische Atomprogramm ausspricht, wie er es zu einer Zeit tat, als er noch auf ein neues Atomabkommen mit dem Iran hoffte. Dadurch besteht die Gefahr einer ernsthaften regionalen Eskalation, die mit einer Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern einhergehen könnte.

Wie ist Syrien jetzt geteilt?
Fast zwei Drittel stehen unter staatlicher Kontrolle, etwa ein Viertel unter kurdisch dominierter Kommunalverwaltung, zehn Prozent unter direkter und indirekter Kontrolle der Türkei – diese Gebiete sind in solche unterteilt, die von der sogenannten Syrischen Nationalarmee nur als solche betrachtet werden können Stellvertreter der Türkei und des größten Teils der Provinz Idlib, die von radikalen Islamisten kontrolliert wird. Letztlich können sich alle militärischen Akteure vor Ort nur mit Unterstützung aus dem Ausland ernähren.

Das Hauptziel der Amerikaner war die Beseitigung des IS mit Hilfe der Kurden. Warum gibt es sie immer noch, nachdem sie weitgehend unterdrückt wurde?
Einerseits ist der IS zwar territorial besiegt, verfügt aber weiterhin über starke Strukturen. Andererseits zwingt die US-Präsenz die Türkei zu einem gemäßigteren Vorgehen in Nordsyrien und bietet der kurdisch dominierten lokalen Regierung einen gewissen Schutz. Bei ihrer Annäherung können Damaskus und Ankara das Abkommen nicht auf Kosten der Kurden umsetzen, solange die USA präsent sind. Darüber hinaus muss jeder, der Einfluss auf die spätere Lösung des Konflikts nehmen möchte, vor Ort sein.

Die tieferen Ursachen dieser Katastrophe müssen dann erneut angegangen werden. Welche waren sie?
Die Proteste im Jahr 2010 waren politisch und sozioökonomisch motiviert. Syrien war und ist ein äußerst repressives System, das seinen Bürgern politische Freiheiten entzieht und sie mit willkürlicher Polizei terrorisiert. Seit den 1990er Jahren kam es zudem zu einer teilweisen wirtschaftlichen Liberalisierung, die zu großen Ungleichheiten führte. Denn im Zuge der Privatisierung fiel der Großteil des ehemaligen Staatseigentums in die Hände der politischen Klasse. Plötzlich sah man eine Menge westlicher Autos und die Elite, die in noblen Cafés Cappuccino trank. Gleichzeitig kam es zu einer massiven Verarmung. Die soziale Kluft vergrößerte sich. Und das zu einer Zeit, als die Klimakrise in Syrien bereits große Probleme verursachte.

In welcher Form?
In den Jahren 2006-2010 kam es zu einer schweren Dürre. Im nördlichen Teil des Landes, im Getreidespeicher Syriens, ist das Getreide vertrocknet und das Vieh ist gestorben. Hunderttausende Bauern flohen in die Städte, wo sie sich in Slums wiederfanden. Die Dürre war eine Folge des Klimawandels, aber auch einer verfehlten Agrarpolitik. Und gerade als die Bauern dringend Unterstützung brauchten, wurden die Subventionen gnadenlos gekürzt.

Was der Krieg in der Ukraine für Syrien bedeutet: „Es besteht die Gefahr einer ernsthaften regionalen Eskalation“ (2)

Inwieweit wurde Assads Machtposition durch den Wiedereintritt Syriens in die Arabische Liga gestärkt?Die Anerkennung des Westens wird damit nicht lange auf sich warten lassen.
Die Wiederaufnahme ist vor allem symbolischer Natur: Diktator Assad wird erneut bei Sitzungen mit am Tisch sitzen – trotz des Verdachts auf Kriegsverbrechen und obwohl er bislang keines der zuvor in der Amman-Erklärung vom 1. Januar geforderten Zugeständnisse gemacht hat. Mai dieses Jahres. Weitere Fortschritte bei der Konfliktlösung sind nicht zu erwarten. Es ist aber auch unwahrscheinlich, dass die Golfstaaten jetzt massiv in den Wiederaufbau Syriens investieren – oder dass sie die USA oder die EU davon überzeugen können, die Sanktionen aufzuheben.

Das Regime basiert auf der Herstellung und dem Schmuggel von Drogen, was in den Nachbarländern für großen Ärger sorgt.

Muriel Asseburg

Was kann in dieser Sackgasse politisch und diplomatisch getan werden?
Deutschland und Europa spielen keine entscheidende politische Rolle. Assads bedingungslose Normalisierung der arabischen Staaten schränkte seinen potenziellen Einfluss weiter ein. Allerdings sollten die Europäer zumindest ihre Herangehensweise an die Hilfe überdenken, die nicht ausreicht, um die humanitäre Situation wirksam zu bewältigen. Die Wirtschaft des Landes ist völlig zerstört. Selbst in Gebieten, die als Zentren des regierungstreuen Protests gelten, kommt es aufgrund der katastrophalen Lage immer mehr zu Protesten. Das Regime basiert auf der Herstellung und dem Schmuggel von Drogen, was in den Nachbarländern für großen Ärger sorgt.

Mit mehr Engagement würde das Assad-Regime weiter stabilisiert.
Ich würde es nicht als Schwarz-Weiß sehen. Es stimmt: Es wäre völlig falsch, mit Assad einen umfassenden Wiederaufbau in Angriff zu nehmen – nicht nur wegen seiner Kriegsverbrechen, sondern auch, weil seine Politik nicht zu nachhaltiger Entwicklung und Befriedung führt. Aber Europa könnte noch viel mehr für den Wiederaufbau und die Wiederherstellung der grundlegenden Infrastruktur tun, insbesondere in den von der Opposition kontrollierten Gebieten. Auf den Sturz des Regimes zu warten und zu hoffen, ist falsch und gefährlich. Wir müssen dringend kreativer werden, indem wir beispielsweise dazu beitragen, Brücken zwischen unterschiedlich kontrollierten Gebieten zu bauen und so den Grundstein für eine funktionierende Wirtschaft und ein funktionierendes Zusammenleben zu legen.

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Rev. Leonie Wyman

Last Updated: 07/07/2023

Views: 5263

Rating: 4.9 / 5 (59 voted)

Reviews: 82% of readers found this page helpful

Author information

Name: Rev. Leonie Wyman

Birthday: 1993-07-01

Address: Suite 763 6272 Lang Bypass, New Xochitlport, VT 72704-3308

Phone: +22014484519944

Job: Banking Officer

Hobby: Sailing, Gaming, Basketball, Calligraphy, Mycology, Astronomy, Juggling

Introduction: My name is Rev. Leonie Wyman, I am a colorful, tasty, splendid, fair, witty, gorgeous, splendid person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.